Warum?
Ein aufwühlendes Tanztheater, das vom Tod handelt und für das Leben spricht

Aus: Schaumburger Nachrichten Online vom 06 Juni 2016
VON Cornelia Kurth
RINTELN. Ein Mensch kniet auf dem Boden und streckt die Hände gegen den Himmel aus. Er sagt kein Wort. Niemand spricht ja im Stück des irakischen Regisseurs Rushdi Al Fatlavoi. Der kniende Mensch muss auch gar nichts sagen. Die Zuschauer wissen trotzdem, dass er eine Frage stellt. Dieselbe Frage, die sich auch dem Publikum immer stärker aufdrängt. Eine Frage, auf die es aber keine Antwort gibt – die Frage nach dem Warum.
„Bullet“ heißt das Stück Al Fatlavois, also Gewehrkugel oder Geschoss. Es fliegen so viele Gewehrkugeln, und sie töten fast alles, was leben will. „Bullet“ spielt im Irak und setzt in Szene, wie schließlich alles erstarrt, wenn in einem Land der Terror herrscht. Es ist ein Tanztheaterstück, getragen von pathetisch düsterer arabischer Musik.
Die jungen Tänzer treten in weißen Hosen mit nacktem Oberkörper auf. Sie sehen kraftvoll und wunderschön aus, eigentlich wie das blühende Leben. Doch was sie auch tun, ob sie lieben oder feiern, ob sie träumen oder aufbegehren – die „Bullets“ strecken sie nieder. Als sei das ihr unausweichliches Schicksal.
An die 150 Zuschauer kamen in die Prince Rupert School, um an einem warmen Sommerabend dieses düstere Stück zu sehen. Mancher hat vielleicht vorher gedacht: Warumtue ich mir das an? Weiß man nicht schon alles über die Situation im Irak oder in Syrien?Wäre es nicht viel spannender, ein Stück über den Alltag der Geflüchteten in Deutschland zusehen, als sich wieder mit Mord und Totschlag in einem fernen Land zu konfrontieren?
Doch bereits die erste Szene räumt solche Gedanken aus. Die gefangenen Männer auf der Bühne – ihr Wächter verspottet sie, verweigert ihnen das Trinken und tötet sie schließlich fastbeiläufig – sie sind gewiss Iraker. Aber sie stehen zugleich für alle Gefangenen der Welt.
Das Mädchen, welches verrückt wird in der Trauer um ihren ermordeten Geliebten, sie steht für alle, die einen Toten beweinen. Die Hochzeitsgesellschaft, deren Freude im Kugelhageluntergeht, sie sind die Menschen, die einfach harmlos glücklich sein wollen. Die Jungen, die ein gekesselt werden und von denen nur einer fliehen kann, sie erinnern an all die Massaker,bei denen eine Gruppe Menschen eine andere Gruppe Menschen auslöscht. Das ist auch in Deutschland geschehen, in Osteuropa, in den USA, in Asien und Afrika.
„Die Bilder, die die Schauspieler mit ausdrucksstarkem Tanz entstehen lassen, drücken genau die Gefühle aus, die sich auch im Publikum entwickeln: Fassungslosigkeit, Verzweiflung,Wut, Trauer und das Gefühl einer abgrundtiefen Sinnlosigkeit. Man hätte von Anfang bis Ende einfach weinen können – und es weinten viele. Es könnte doch alles gut sein. Warum das alles?
Eine Antwort gibt Rushdi Al Fatlavoi nicht. Eine Antwort haben auch nicht die Zuschauer,zwischen denen die Tänzer umhergehen und die sie fragend anblicken. Als sich dann aber der rauschende Schlussapplaus erhebt, als die Schauspieler und der Regisseur sich mitglücklichem Lachen verbeugen, und noch einmal klar wird, dass sie leben, dass so viele Menschen kamen, um ihnen zuzusehen und ganz einfach: Dass draußen die Sonne scheint an einem Abend im Frühsommer, da bleibt bestehen, dass man nicht aufgeben darf, die Freude nicht und nicht das Mitgefühl.